7. Mai 2007
Dokumentation: „Wenn wir miteinander reden, schweigen die Fäuste“
„Wenn wir miteinander reden, schweigen die Fäuste“
Eine Dokumentation aus aktuellem Anlass - Erinnerung an alte Zeiten
So manch einer fühlt sich angesichts des Treffens der "volkstreuen Jugend"
der NPD Muldental mit Landrat Dr. Gey an längst vergangen geglaubte Zeiten erinnert. Mitte der 90er Jahre meinte die Verwaltung, die Wurzener Faschos als Reaktion für Übergriffe mit eigenen Treffs belohnen zu müssen, um sie auf diese Weise ruhig zu stellen. Später sollte sich ein Verantwortungsträger des Kreises sogar lobend über die Jugendarbeit der NPD in ihrem inoffiziellen Parteizentrum äußern, bevor dieses endlich dichtgemacht wurde.
Wir dokumentieren im Anschluss einen Auszug aus der antifaschistischen "Wurzen-Broschüre" von 1996, die sehr gut die Verfehlungen der kommunalen Jugendarbeit im Muldental und speziell Wurzen bis Mitte der 90er Jahre beleuchtet. Auch damals gab es Treffen mit rechten Jugendlichen, die sich über angebliche Repressionen und fehlende Freizeitmöglichkeiten beklagten. Auch damals hieß einer der Protagonisten auf Seiten der Faschos Marcus Müller - ab 1997 dann Kreischef der NPD. Auch damals floss Geld (und zwar nicht nur lumpige 2.000 Euro, von denen jetzt die Rede ist). Auch damals wurden im Gegenzug alternative Treffpunkte und Projekte plattgemacht.
Schon damals sollte also "Toleranz keine Einbahnstraße" (Dr. Gey) darstellen. Der positive Nebeneffekt: "Wenn wir miteinander reden, schweigen die Fäuste" - so launig ein Mitarbeiter des Kreisjugendamtes. Auch heute arbeiten die Neonazis zumindest mit unterschwelligen Bedrohungen, wenn sie in dem Gespräch mit dem Landrat laut eigener Darstellung vor Auseinandersetzungen warnen, die bisher nur dank einer "von hohem Selbstbewusstsein getragenen Disziplin und Toleranz bei den nationalen Kräften" verhindert worden seien.
Der Unterschied zu heute: Vor reichlich zehn Jahren spielte Dr. Gey zumindest noch die Rolle des Einäugigen unter den Blinden, der gegenüber dem damaligen Wurzener OBM immerhin Veränderungen in der städtischen Jugendpolitik und die Einführung qualitativer Standards einfordert. Doch viel dazugelernt zu haben scheint er seitdem nicht wirklich - ganz im Gegenteil zu seinen Gesprächspartnern. Die sitzen ihm inzwischen immerhin als Kreisräte und Mitarbeiter der Landtagsfraktion der NPD gegenüber und nutzen die Steilvorlage des "von gegenseitigem Respekt und Fairness getragenen Dialoges" (Pressemitteilung der NPD) genussvoll zur eigenen Profilierung.
Aus der "Wurzen-Broschüre", Kapitel "Stadtpolitik im Jugendbereich":
[quote]Am 16. Oktober 1994 greift eine mindestens 60-köpfige Gruppe Faschos Container an, in denen portugiesische Bauarbeiter wohnen. Am 24. Oktober 1994 findet ein Treffen zwischen VertreterInnen der Polizeidirektion, des Jugendamtes Grimma, den portugiesischen Bauarbeitern und den Faschos statt. „Wenn wir miteinander reden, schweigen die Fäuste“ sagt unter Zustimmung der Faschos Herr Stör. Marcus Müller erklärt, ein ständiger Druck durch Staat, Linke und die fehlenden Freizeitmöglichkeiten in Wurzen laste auf den Faschos. Pausch stimmt dem zu und greift Müllers Vorschlag eines Haus für die rechten Jugendlichen auf. Die Rechten sollen lediglich einen Vertreter bestimmen, denn, so Pausch, „einem muß ich ja den Schlüssel geben können.“ Der Überfall auf die portugiesischen Bauarbeiter ist kein Thema bei diesem Treffen.
Dem Gespräch geht ein Zusammentreffen von Landrat Dr. Gey, Jugendamt, Polizei und dem Bürgermeister Pausch zu den Konsequenzen des Überfalls für die städtische Jugendpolitik voraus. Da Pausch keinen Handlungsbedarf sieht und sich auf die kommunale Selbstverwaltung beruft, bietet der Landrat Dr. Gey nach Beratung im Arbeitskreis Kriminalitätsprävention des Landratsamtes Grimma dem Bürgermeister die Baracke am Landratsamt zur kostenlosen Nutzung an. Er stellt jedoch die Bedingung, daß die Stadt dafür zwei ausgebildete JugendsozialarbeiterInnen einstellt. Damit versucht Gey Einfluß auf die Stadtpolitik zu nehmen, da die von Wurzen ausgehenden Probleme auch seinen Arbeitsbereich betreffen. Pausch stimmt dem Vorschlag zwar widerwillig zu, besetzt die zwei Stellen jedoch mit für ihn kostenlosen ABM-Kräften, die als technische Hilfskräfte fungieren und Handreichungen für die Faschos ausüben. Die BB-Baracke wird entsprechend Geys Forderung, bis Weihnachten das Objekt hergerichtet zu haben, am 19. Januar 1995 geöffnet. Für die Baracke, die lediglich ein provisorisches Winterquartier darstellt, werden 123.000 DM an Fördermitteln ausgegeben.
Die BB-Baracke entwickelt sich in Folge zum Lieblingskind des Bürgermeisters. So besuchen er und andere MitarbeiterInnen der Stadtverwaltung sie mehrmals, nehmen an Veranstaltungen in der Baracke teil und setzen sich dafür ein, daß die Baracke nach zwei Antifa-Aktionen sofort wieder hergerichtet wird.
Die Existenz der BB-Baracke, in die nur Faschos reinkommen, dient dem Bürgermeister als Argument, alle Forderungen nach weiteren Jugendtreffpunkten abzuschmettern. Die BB-Baracke ist wichtigster Treffpunkt des organisierten Jungsturms sowie der rechten SympathisantInnen. Ältere Faschos lassen sich ab und zu in der Baracke blicken, treffen sich ansonsten aber in Privatwohnungen und Kneipen. Zur Imagepflege veranstalten die Faschos im März 1995 ein Frühlings- und Kinderfest. Dazu äußert Ronny Schräpler: „Es war eine spontane Idee. Wir wollten beweisen, daß wir anders sind als unser Ruf.“ Der schlechte Ruf, den Ronny meint, bezieht sich nicht etwa darauf, daß er am 21. Januar 1995 von der Baracke aus in die Disco Joy ging, um die dortigen Faschos zum Übergriff auf die Berggasse anzustacheln, und sich selbst am Überfall beteiligte, vielmehr geht es um die Beschwerden der AnwohnerInnen des Neubaublocks, in dem sich die Faschos nach 2000 Uhr treffen, wenn die Baracke geschlossen ist.
Der Nutzungsvertrag für die Baracke läuft am 31. September 1995 aus. Die Baracke muß jedoch wegen eines Brandes Anfang September, der auf einen Kurzschluß zurückgeht, schon einige Tage zuvor schließen.
Im Oktober 1995 besetzen Faschos des sogenannten harten Kerns ein Haus in der Wurzner Käthe-Kollwitz-Straße. In diesem versammeln sich später zu verschiedenen Anlässen bis zu 300 Faschos und es wird als eine Art NPD-Zentrale genutzt. Vom Sächsischen Innenministerium wird im April 1996 eingeschätzt, daß Wurzen ein rechtsextremistisches Zentrum Sachsens ist und daß das Haus in der Käthe-Kollwitz-Straße ein herausragender Treffpunkt der rechtsextremistischen Szene ist. Im Juli 1996 bezeichnet der Verfassungsschutz Wurzen gar als das „wohl wichtigste Zentrum“ neofaschistischer Aktivitäten in der BRD, welches unter dem maßgeblichen Einfluß der NPD entstanden sei.[/quote]
Ein Rückblick auf die damaligen Eriegnisse findet sich auch in der Studie "Mein Sohn wurde von Rechten zuammengeschlagen" des Mobilen Beratungsteams (MBT) für den Regierungsbezirk Leipzig.
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