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23. Mai 2012

Miro Jennerjahn: Stellungnahme zum Wurzener Denkmalstreit

Miro Jennerjahn
Mitglied des Sächsischen Landtags
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Stellungnahme zum Wurzener Denkmalstreit

Seit mittlerweile mehreren Monaten tobt in Wurzen eine Debatte über eine mögliche künstlerische Auseinandersetzung mit dem Denkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges auf dem Alten Friedhof in Wurzen, durch welche der fortschreitenden Vereinnahmung des Denkmals durch Neonazis entgegen gewirkt werden soll. Die Äußerungen des Vorsitzenden der CDU-Fraktion im Wurzener Stadtrat, Matthias Rieder, stellen eine neue Eskalationsstufe in dieser Debatte dar (siehe hierzu die Ausgabe der LVZ Muldental vom 21. Mai 2012).

Als einer derjenigen, die im Wurzener Bündnis für Demokratie gegen Neonazismus aktiv teilnehmen und sich intensiv mit der Problematik Neonazismus beschäftigen, empfinde ich es zunehmend als unerträglich, mit welchen Methoden gegen eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem genannten Problem von einigen für die Stadt wichtigen Akteuren polemisiert wird. Namentlich zu nennen sind hier Dr. Jürgen Schmidt und Wolfgang Ebert als offenkundige Hauptakteure des Wurzener Geschichts- und Altstadtvereins, sowie der Wurzener CDU, offensichtlich vertreten durch Herrn Rieder und die CDU-Landtagsabgeordnete Hannelore Dietzschold.

 

Ich habe lange in der Öffentlichkeit zu der Diskussion geschwiegen und meine Kraft vor allem darauf verwendet, innerhalb des Bündnisses mitzuarbeiten und mitzudenken. Mit den verbalen Entgleisungen von Herrn Rieder ist für mich nun der Zeitpunkt zur öffentlichen Intervention gekommen.

Die eigentlichen Fakten sind schnell erklärt. Nach langen Jahren hat sich mit dem Wurzener Bündnis für Demokratie gegen Neonazismus endlich ein Kreis engagierter Menschen gefunden, der sich mit dem Neonazi-Problem in Wurzen auseinander setzt und der über die „üblichen Verdächtigen“ hinaus reicht. Dass Wurzen nach wie vor ein Problem mit Neonazismus - und damit einhergehend mit einer permanent gegebenen Gefahr von massiven Gewalttaten und einer alltäglichen Einschüchterung all derjenigen, die nicht in das Weltbild der Neonazis passen - hat, ist für jeden, der oder die sehen will, offensichtlich und nicht zu leugnen. Um nur drei Beispiele zu nennen:

  1. Mit der Terror Crew Muldental gibt es eine Formation, die offenkundig vor Gewalt nicht zurück schreckt, wie die Teilnahme mehrerer Mitglieder dieser Gruppierung an einem gewalttätigen Überfall auf ein Fußballspiel in Brandis belegt. Gegen die Gruppe wird überdies wegen des Verdachts auf Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt.
  2. Mit der JN Muldental hat die Jugendorganisation der NPD ein festes und aktives Standbein in Wurzen.
  3. Akteure, die unmittelbar in oder im Umfeld der im Jahr 2000 verbotenen internationalen Neonazi-Organisation Blood & Honour aktiv waren, wirken in und von Wurzen aus.

Die Existenz dieser Szene führt dazu, dass Wurzen Schauplatz reger Neonazi-Aktivitäten ist, deren deutlichster Ausdruck das anlässlich des Volkstrauertags jährlich zelebrierte „Heldengedenken“ ist. Wurzen ist dabei die sächsische Stadt, in der seit mehreren Jahren der größte Neonazi-Aufmarsch an diesem Tag stattfindet. Das Denkmal am Alten Friedhof ist zentraler Dreh- und Angelpunkt der Neonazi-Aktivitäten.

Vor diesem Hintergrund hat sich im Wurzener Bündnis für Demokratie gegen Neonazismus die Überzeugung herausgebildet, dass eine inhaltliche Debatte über das Denkmal notwendig ist. Diese soll zum einen den ursprünglichen Charakter des Denkmals als Mahnung gegen Krieg und Gewalt betonen und zum anderen eine Vereinnahmung durch Neonazis erschweren. Es entstand die Idee, dies durch eine künstlerische Kommentierung in Form eines Wettbewerbs zu gestalten. Dabei war nach meinem Eindruck unter allen Beteiligten immer Konsens, dass

  1. nicht in die bauliche Substanz des bestehenden Denkmals eingegriffen wird, dies also nicht verändert wird, es mithin lediglich eine begleitende Kommentierung geben soll;
  2. eine breite öffentliche Debatte über mögliche konkrete Gestaltungsformen notwendig ist;
  3. dafür ein Wettbewerb eine geeignete Form darstellt.

Was mich an der gegenwärtigen Debatte empört, ist nicht der Umstand, dass es Gegnerinnen und Gegner dieser Idee gibt. Dies wäre im Normalfall Gegenstand eines urdemokratischen Diskussionsprozesses, an dessen Ende weitere, andere und/oder bessere Ideen stehen könnten, wie mit dem Neonazi-Problem in Wurzen umgegangen werden kann. Was mich empört ist vielmehr der Umstand, dass von den federführenden Gegnern dieser Idee, die vom Bündnis gemachten Prämissen von Anfang an ignoriert und in der Öffentlichkeit der sachlich falsche Eindruck vermittelt wurde, es gehe um einen baulichen Eingriff in das Denkmal, mithin eine Veränderung. In dem offenen Brief der Gegnerinnen und Gegner der Idee vom 23. März 2012 versteigt man sich gar zu der Formulierung „Verunstaltung“.

Damit war von Anfang an die Möglichkeit verbaut, darüber zu diskutieren, ob eine künstlerische Beschäftigung der richtige Weg der Auseinandersetzung mit neonazistischen Tendenzen der Gegenwart ist oder nicht. Vielmehr wurde bewusst von Vornherein auf Populismus und den Appell an niedere Instinkte gesetzt.

Erstaunlich in der ganzen Genese der Diskussion ist, dass der Geschichts- und Altstadtverein nach meinem Kenntnisstand zwar immer zu den Sitzungen des Wurzener Bündnisses für Demokratie gegen Neonazismus eingeladen war, dort jedoch kaum auftauchte. Dennoch wurde aus dem Bündnis heraus der Geschichts- und Altstadtverein als Mitglied der Jury für den Kunstwettbewerb als wichtig erachtet.
Ich gebe an dieser Stelle gerne zu, dass ich mich damals gegen diesen Vorschlag ausgesprochen habe, aufgrund der meines Erachtens destruktiven Rolle, die sowohl Dr. Jürgen Schmidt als auch Wolfgang Ebert in der Vergangenheit in Wurzen im Umgang mit Neonazismus gespielt haben.

Angefragt seitens des Wurzener Bündnisses war ein Vertreter des Geschichts- und Altstadtvereins zur Mitarbeit in der Jury, wie auch andere Organisationen lediglich mit einer Person vertreten sind. Der Verein überraschte dann mit der Aussage, dass er mit Herrn Dr. Schmidt und Herrn Ebert zwei Vertreter zu schicken gedenke. Im Wurzener Bündnis wurde beschlossen, dies hinzunehmen, in der Hoffnung auf eine konstruktive Zusammenarbeit. Das konkrete Agieren beider Personen lässt jedoch meines Erachtens nur einen Schluss zu: Die Zusage war rein strategischer Natur, um den gesamten Prozess lahm zu legen.

Besonders absurd wird diese Episode, wenn ich der Zeitung entnehmen muss, dass Herr Dr. Schmidt und Herr Ebert zwar offensichtlich Zeit und Kraft haben, nach Frankreich zu fahren, um Erde von einem Originalschauplatz des Ersten Weltkrieges nach Wurzen zu transportieren. Zeit und Kraft, sich mit konkreten Gefahren für die Menschen in Wurzen in der Gegenwart - wie sie neonazistische Organisationen und Personen in Wurzen darstellen - auseinanderzusetzen, wollen beide offenkundig nicht aufbringen.

Ausgangspunkt für die Äußerungen von Herrn Rieder in der LVZ Muldental vom 21. Mai 2012 hingegen war ein offener Brief des Netzwerks für Demokratische Kultur e.V. (NDK) an Herrn Rieder, in dem insbesondere das Agieren der Wurzener CDU in dem Denkmalstreit hinterfragt wird, verbunden mit dem Wunsch in eine sachliche Diskussion einzutreten. Der Brief des NDK ist öffentlich einsehbar, so dass für jede und jeden nachvollziehbar ist, dass in dem Brief keinerlei Unterstellungen, ehrabschneidende Äußerungen oder ähnliches getätigt wurden, sondern lediglich offensichtlich im Raum stehende konkrete Fragen zu einzelnen Teilproblemen gestellt wurden. Die Reaktion von Herrn Rieder in der LVZ Muldental vom 21. Mai 2012 ist von einem Politik- und Diskussionsstil geprägt, für den mir nur ein Wort einfällt: schäbig!

Aber der Reihe nach.
In der Einleitung des Artikels erfahren die Leser, Herr Rieder habe eigentlich gar nicht auf den Brief des NDK reagieren wollen. Nun ist Herr Rieder nicht in seiner Eigenschaft als Privatperson angeschrieben worden, sondern in seiner Funktion als Vorsitzender der CDU-Stadtratsfraktion. Damit stellt sich automatisch die Frage nach dem Politikverständnis von Herrn Rieder.

Dann geht es weiter mit einer Unterstellung: Die Meinung des NDK über ihn, die CDU Wurzen und überhaupt alle Wurzenerinnen und Wurzener sei „ohnehin seit Jahren ideologisch vorgefasst“. Hier wird mit dem alten rhetorischen Trick gearbeitet, das NDK als etwas Fremdes in Wurzen zu kennzeichnen. Was Herr Rieder dabei wissentlich unterschlägt ist, dass eine relevante Zahl der Gründer des NDK und der Vereinsmitglieder aus Wurzen oder unmittelbarer Umgebung stammt. Hinter der Argumentationslinie steckt die unerträgliche Arroganz, die in der Wurzener CDU immer wieder zu spüren ist, bestimmen zu wollen, wer zu Wurzen gehört und wer nicht. Hintergrund ist somit eine aggressive Ausgrenzungsrhetorik.

Anschließend folgt eine dezidierte Falschaussage. Aus der Feststellung in dem NDK-Schreiben, auf der Unterschriftenliste der Gegner einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Denkmal befinde sich eine relevante Zahl Neonazis folgert Herr Rieder, dass NDK habe alle UnterzeichnerInnen in die „Nazi-Ecke“ verbannt. Diese Aussage ist zwar nachweislich falsch, dient Herrn Rieder in der Folge auch lediglich dazu, das NDK als den eigentlichen Brandstifter in der Diskussion zu brandmarken und eine öffentliche Entschuldigung des Vereins zu fordern.

Weiter geht es mit der Behauptung von Herrn Rieder CDU-Akteure hätten nicht als Funktionsträger sondern als Bürger Wurzens die Unterschriftenliste unterzeichnet. In der Realität ist jedoch eine enge Verknüpfung der Wurzener CDU und ihrer maßgeblichen Akteure zu verzeichnen. So wurde in der Presse der Mitarbeiter der CDU-Landtagsabgeordneten Hannelore Dietzschold zur Unterschriftenaktion zitiert, Frau Dietzschold selbst hat den offenen Brief explizit mit dem Zusatz MdL (Mitglied des Landtags) mithin mit ihrer politischen Funktionsbezeichnung unterzeichnet. Zu den Initiatoren des Briefs gehören die Vorsitzende des CDU-Ortsverbandes, Hannelore Dietzschold, die beiden Stellvertreter Gerald Lehne und Matthias Rieder und einer der Beisitzer des Ortsverbandsvorstands, der gleichzeitig Mitarbeiter der Landtagsabgeordneten Dietzschold ist.

Fügt man nun noch hinzu, dass mit dem Vorsitzenden des Gesichichts- und Altstadtvereins Dr. Jürgen Schmidt der ehemalige CDU-Oberbürgermeister Wurzens zu den Initiatoren der Unterschriftenaktion gehört, muss die Aussage von Herrn Rieder endgültig ins Reich der Legenden verwiesen werden.

Herr Rieder hat mit seinen Äußerungen einen weiteren Beitrag geleistet, das politische Klima in Wurzen zu vergiften. Statt Diffamierungen und Unterstellungen wäre endlich eine breite inhaltliche Auseinandersetzung darüber notwendig, wie Wurzen mit seinem Neonazi-Problem umgehen möchte. Herr Rieder, die Wurzener CDU und der Geschichts- und Altstadtverein sind Antworten auf diese Fragen bislang schuldig geblieben. Statt mit sachlich falschen Argumenten gegen eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Denkmal am Alten Friedhof zu polemisieren erwarte ich, dass sich die genannten Akteure endlich konstruktiv in die Diskussion einschalten.

Insbesondere die Wurzener CDU ist hier gefordert, die - von Einzelpersonen abgesehen - bis heute immer wieder eine deutliche Abgrenzung zum neonazistischen Rand hat vermissen lassen und im Gegenzug diejenigen diffamiert hat, die sich mit der Problematik auseinandersetzen.

Welche Ideen und Konzepte hat die CDU Wurzen im Umgang mit Neonazismus? Diese Frage wird die Wurzener CDU öffentlich klären müssen. Das bislang praktizierte Leugnen und Ignorieren des Problems hat die neonazistische Szene in Wurzen stark gemacht.

Das bewusste Hantieren mit Halbwahrheiten und der Diffamierung von engagierten Menschen wird zudem dazu führen, dass immer weniger Menschen in Wurzen bereit sein werden, sich in der Stadtgesellschaft zu engagieren.

Die Türen für die Wurzener CDU in einen konstruktiven und sachlichen Diskussionprozess über fundierte Konzepte im Umgang mit Neonazis zu treten stehen jederzeit offen. Bei mir, und ich bin mir sicher auch beim NDK und bei allen anderen Menschen, die sich seit Jahren in Wurzen gegen Neonazis engagieren. Es liegt bei der Wurzener CDU zu entscheiden, ob sie diese offenen Türen nutzen will, oder sie weiterhin zuschlägt.

Wurzen, den 23. Mai 2012

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