11. August 2015
Nachfahren der Seligmanns tragen sich ins Goldene Buch der Stadt ein
Stolpersteine für geflüchtete jüdische Familie verlegt / Veronica und David Russell reisen aus England an
Von Haig Latchinian
Wurzen. Gleich nach dem Fall der Berliner Mauer reiste er nach Wurzen: Claus-Dietrich Seligmann, der Architektur-Professor aus Seattle (USA) blieb 1990 nur wenige Stunden in jener Stadt, aus der er als zwölfjähriger jüdischer Junge nach England flüchten musste. Gut 50 Jahre später führte ihn sein Weg in die Domgasse 19, wo sein Vater am Abend des 9. November 1938 verhaftet wurde. Der weit gereiste Professor wollte seinen Freund Fritz Bode besuchen, der früher im Nebenhaus wohnte. Doch er traf den Sohn des damaligen Druckereibesitzers nicht an.
Emotionaler Moment: Der Berliner Gotthart Kumpan (r.), Enkel des einstigen Wurzener Pfarrers Carl Magirius, begrüßt die Engländer Veronica und David Russell. Fotos: Frank Schmidt
Es war der bewegendste Moment ihres Lebens: Die 62-jährige Veronica Russell aus Halifax bei Leeds (England) stand jetzt zusammen mit zahlreichen Wurzener Bürgern vorm Haus in der Domgasse 19. Hier verlegte Restaurator Heinz Ernst vier Stolpersteine - für den Arzt Arthur Seligmann, seine Frau Susanne sowie die Kinder Gisela und Claus-Dietrich, damals Mitglieder der Kirchgemeinde. "Wenn Vater diese herzliche Anteilnahme noch hätte erleben dürfen", sagte Veronica Russell voller Dankbarkeit. Claus-Dietrich Seligmann starb 2014 mit 87 Jahren, hinterließ vier Kinder, sechs Enkel und eine Urenkelin.
Horst Schulze, einstiger Superintendent, würdigte die Verdienste von Pfarrer Carl Magirius. "Er war es, der den im Schloss eingesperrten Arthur Seligmann besuchte. Dabei bewies er viel Mut. Später wurde er selbst verhaftet." Er verhalf erst Claus-Dietrich, danach auch dessen Mutter und Schwester zur Flucht auf die Insel. Vater Arthur saß im KZ ein, ehe auch er sich nach England rettete.
Gotthart Kumpan (71), Arzt in Berlin und Enkel von Pfarrer Magirius, reichte der Tochter von Carl-Dietrich Seligmann sichtlich gerührt die Hand. "Viele wollten damals nicht sehen, was Mitbürgern angetan wurde. Liebe Frau Russel, es ist nicht selbstverständlich, dass Sie den weiten Weg aus Leeds auf sich genommen haben. Danke, dass Sie da sind."
Oberbürgermeister Jörg Röglin bedankte sich bei den Wurzenern, die mit ihrer Spende die Ehrung erst möglich gemacht hätten. Der 13-jährige kleine Trompeter Norman Lorenzo Thieme blies Nabucco sowie die Europahymne.
Marianne Heise (89) wohnte damals direkt neben der jüdischen Familie: "Herr Doktor Seligmann schenkte mir Blumen zum Geburtstag." Sie habe gern mit Gisela gespielt, so die Nachbarin: "Aber sie war nur selten unten." Annemarie Heinicke (86) ging mit Gisela in eine Klasse. "Nach der Pogromnacht kam sie nicht in die Schule. Wir konnten uns das nicht erklären, dachten, sie sei krank. Irgendwann stand der Möbelwagen vor der Tür, eine Firma aus London." Gabi Kirsten und Ulrike Ernst von der "Projektgruppe Stolpersteine" recherchierten, dass Gisela wie ihr Vater als Arzt arbeitete und heute in der Nähe von London lebt. Daraufhin schrieb ihr Schulfreundin Annemarie Heinicke eine Karte mit den Kontaktdaten und übergab sie der anwesenden Veronica Russell, die versprach, sie ihrer Tante weiterzureichen. Gerhard Collini (87), Klassenkamerad von Claus-Dietrich, berichtete, wie er sich damals schützend vor ihn gestellt habe, als ihn die Großen in der Knabenschule verprügeln wollten.
Veronica Russell und ihr Mann David trugen sich ins Goldene Buch der Stadt ein und bedauerten sehr, dass ihr Vater beziehungsweise Schwiegervater 1990 seinen Freund Fritz Bode nicht antraf. Bode ist 88 Jahre alt, lebt in Füssen und erfuhr gestern per Telefon von der Stolperstein-Verlegung in Wurzen: "Ich erinnere mich noch gut an den Dieter, er war mein Freund."
Domgasse 19: Mit Porträts von Arthur Seligmann, seiner Frau Susanne sowie den beiden Kindern Dieter und Gisela erinnerten die Wurzener an die geflüchtete jüdische Familie.