31. Dezember 2022
Jugendliche entwickeln Gedenkstationen für die Opfer der Todesmärsche
„Was hat das denn mit mir zu tun?“ – diesen Satz hört man im Zusammenhang mit der deutschen Geschichte und insbesondere der Geschichte des Nationalsozialismus immer wieder. Eines der Probleme in diesem Zusammenhang,insbesondere bei jungen Menschen, ist die zeitliche und damit auch persönliche Distanz. Viele Jugendliche können nicht einmal mehr über die Großeltern, höchstens über die Urgroßeltern einen persönlichen Bezug mit der Geschichte des Zweiten Weltkrieg und der eigenen Familiengeschichte herstellen. Immer öfter signalisieren junge Menschen, dass ihnen nicht klar sei, was diese lange zurückliegende Geschichte mit ihnen zu tun habe. Gleichzeitig tauchen vermehrt neonazistische Schmierereien im öffentlichen Raum auf, und Verschwörungserzählungen mit antisemitischen Versatzstücken haben in den vergangenen Jahren zunehmend Konjunktur. Eine Auseinandersetzung mit der regionalen Geschichte sowie bestehenden lokalen Strukturen, die sich kritisch mit dem Nationalsozialismus und seiner antisemitischen Ideologie
befasst, ist ein unumgänglicher Bestandteil, um diesen Entwicklungen vor Ort entgegen zu wirken. Mit den Projekten „Aus der Vergangenheit lernen, um die Zukunft zu gestalten“ und „Rememberance Reloaded“ wollten wir aktiv junge Menschen dafür gewinnen, sich mit der Lokalgeschichte des Nationalsozialismus auseinander zu setzen und sie einladen, die Erinnerung daran selbst zu gestalten. Hierfür haben wir an die Tradition des Gedenkmarsches an die Opfer der Todesmärsche im Muldental angeknüpft. Seit über 20 Jahren findet jedes Jahr am Sonntag nach dem 1. Mai ein von der Initiativgruppe Gedenkmarsch organisiertes Erinnern statt, bei dem zu Fuß bzw. mit dem Rad auf der Strecke von Borsdorf nach Wurzen an die Tausenden Menschen gedacht wird, die 1945 im Zuge der „Evakuierung“ von Zwangsarbeit- und KZ-Außenlagern ihr Leben ließen. Getrieben von den SS-Wachen starben viele der Häftlinge auf der Strecke durch Hunger, Erschießung oder schlichtweg Erschöpfung. Diese Geschichte und das Erinnern daran wollten wir in gemeinsam gestalteten Projekttagen aufnehmen und weiterführen. Gemeinsam haben wir für Borsdorf, Gerichshain, Machern, Bennewitz und Wurzen Stationen entwickelt, die an die Geschichte der Todesmärsche erinnern. Insbesondere der regionale Bezug und die Information, dass Menschen z. B. durch den Crostigall oder die Dresdner Straße getrieben wurden, löste Betroffenheit bei den Jugendlichen aus: „Diese Orte kennt man ja.“, „Dort in der Nähe wohne ich!“ waren einige Bemerkungen, die wir während der Projekttage hörten. Aber Erinnerungskultur, was heißt das eigentlich? Das sind bestimmte Daten, wie beispielsweise der Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar oder an die Novemberpogrome am 9. November. Häufig werden in offiziellem Rahmen Blumen niedergelegt. Viele dieser Gedenktage sind inzwischen institutionalisiert. Wir wollten mit dem Projekt daran arbeiten, was Erinnerungskultur eben auch ist und sein muss, nämlich ein regionales Gedenken – Die Beschäftigung mit der Vergangenheit und eine Auseinandersetzung im eigene Alltag oder an alltäglichen Orten. Es bedarf eines Raums, um eigene Gedenkformen und eine partizipative und inklusive Form der Erinnerung zu schaffen. Gerade deshalb war es uns wichtig auch junge Menschen darin einzubinden, um bestehende Strukturen zu ergänzen und zu diversifizieren. An den jeweiligen Orten sind im Rahmen des Projekts neben Hörstationen und Gedenktafeln auch Graffiti-Wände entstanden, die verschiedene Formen des Erinnerns darstellen und sichtbar machen, dass Gedenken unterschiedlich aussehen kann. Es war uns wichtig, dass in den verschiedenen Medien die Schwerpunkte deutlich werden, die die Jugendlichen wählten, nachdem wir inhaltlich mit ihnen zu den Themen Zwangsarbeit, Todesmärsche und Betroffenengruppen gearbeitet haben. Per QR-Code sind die entstandenen Höraufnahmen abrufbar, denn ein weiterer wichtiger Punkt war für uns die Nachhaltigkeit. Während es schwierig ist, Jugendgruppen, die häufig in Klassenverbänden zusammenkommen, zu halten, wollten wir, dass etwas von ihnen bleibt. Zusätzlich zu den Stationen ist eine Broschüre entstanden, die die fünf Projektgruppen begleitet und über die Hintergründe des Projektes informiert. Ziel der Broschüre war es, Menschen zu erreichen, die bisher wenig von der wichtigen Arbeit der Initiativgruppe Gedenkmarsch wussten. Darüber hinaus wollten wir es Menschen ermöglichen, sich auch außerhalb der jährlichen Gedenkfahrten an den Orten zu informieren. Ein wichtiges Anliegen in der Arbeit mit Jugendlichen war es, die Frage zu stellen, wer Erinnerung eigentlich prägt. Mit dem Fokus auf eine praxisnahe Vermittlung und die Erstellung eigener Formate wollten wir zudem das demokratische Handeln der Jugendlichen stärken. Entstanden sind daraus Erinnerungsorte, die sich mit der Alltagswelt der Jugendlichen überschneiden, die aber eben auch die Tradition der Gedenkmärsche aufnehmen, weiterführen und ergänzen. Jugendliche wurden so in die Entstehung von lokalen Erinnerungsorten einbezogen und historische Bezüge hergestellt und eingeordnet. Wir wollten einen emotionalen Bezug zur lokalen Geschichte fördern und zugleich die kritische Erinnerung an den Nationalsozialismus fortführen. Dies ist uns mit dem Projekt gelungen.